Verfassungsstaatliche Erwartungen an den kirchlichen Umgang mit Menschenrecht

1. Der Begriff „Menschenrechte" ist vielschichtig und mehrdeutig. Bereits in Europa und Nordamerika beruhen sie auf unterschiedlichen geistesgeschichtlichen und philosophischen Wurzeln. Die offizielle Auffassung der Kirche steht einer normativen Begründung der Menschenrechte nach wie vor skepti...

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Bibliographic Details
Main Author: Geis, Max-Emanuel 1960- (Author)
Format: Print Article
Language:German
Check availability: HBZ Gateway
Fernleihe:Fernleihe für die Fachinformationsdienste
Published: Aschendorff Verlag 2021
In: Globale Menschenrechte und weltweite Verkündigung der christlichen Botschaft
Year: 2021, Pages: 115-126
Standardized Subjects / Keyword chains:B Vatican Council (2., 1962-1965, Vatikanstadt, Motiv) / Human rights / Obligation / Germany

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520 |a 1. Der Begriff „Menschenrechte" ist vielschichtig und mehrdeutig. Bereits in Europa und Nordamerika beruhen sie auf unterschiedlichen geistesgeschichtlichen und philosophischen Wurzeln. Die offizielle Auffassung der Kirche steht einer normativen Begründung der Menschenrechte nach wie vor skeptisch gegenüber. Gleichwohl sind die normativen Konkretisierungen der Menschenrechte im deutschen Rechtssystem auch für den allgemeinen Rechtsverkehr verbindlich, soweit die Kirche daran teilnimmt. 2. Im Sinne normativ allgemein verbindlicher Bestandteile des deutschen Rechtssystems steht der Begriff der Menschenrechte zum einen als Synonym für die „Jedermann"-Rechte des Grundgesetzes, zum anderen bezieht er sich auf die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes gelten. 3. Dagegen wird im Folgenden auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 nicht eingegangen, weil sie zum einen jedenfalls als Ganzes kein verbindliches Recht darstellt und zum anderen der Heilige Stuhl dieser Erklärung bis heute nicht beigetreten ist. 4. Konkrete verfassungsstaatliche Anforderungen ergeben sich daher namentlich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention gründet zwar nicht auf einem ,,Verfassungsstaat", durch ihre Geltung als einfaches Bundesgesetz (...) fließt ihre Auslegung aber zunehmend in die Rechtsprechung der nationalen deutschen Gerichte ein. Verfassungsstaatliche Erwartungen erfordern dann aber auch einen prinzipiellen Konsens in der Auslegung paralleler Garantien, um nicht vage oder widersprüchlich zu bleiben. 5. Auf der Ebene des Grundgesetzes werden normative Spannungsfelder zwischen kirchlicher und staatlicher Rechtsordnung durch die Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV in sachgerechter Weise aufgelöst. Dies gilt insbesondere für die „Menschenrechte" des Grundgesetzes; Kollisionen sind nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz aufzulösen. Insoweit hat sich der vor fast 100 Jahren konstruierte „Weimarer Kirchenkompromiss" auf lange Sicht als Grundlage einer vertrauensvollen Koexistenz zwischen Staat und Kirche bewährt. 6. Die wesentlichen Eckpfeiler dieser Koexistenz hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4.5.1985-2 BvR 1703, 1718/ 83 und 856 / 84-zusammengefasst: Bei unterschiedlichen Bewertungen (arbeits-) vertraglicher Loyalitätspflichten steht den Kirchen ein aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV folgendes verbindliches Bestimmungsrecht zu, was „spezifisch kirchliche Aufgaben" und die „Nähe" zu ihnen seien bzw. „was als Verstoß gegen die wesentlichen Grundsatze der Glaubens- und Sittenlehre" zu bewerten sei. Etwas anderes gelte nur, wenn das Auslegungsergebnis dem allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) den „guten Sitten" (§ 138 Abs. 1 BGB) oder dem ordre public (Art. 30 EGBGB) widerspreche. 7. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.2014 - 2 BvR 661 / 12 - knüpft inhaltlich an diese Rechtsprechung an, führt aber als vorgeschaltete Prüfungsstufe eine Plausibilitätskontrolle ein. Danach sind die staatlichen Gerichte befugt und verpflichtet, zumindest überschlägig zu überprüfen, ob ein bestimmtes Handeln oder eine Tätigkeit dem von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV geschützten Normbereich des Selbstbestimmungsrechts zuzurechnen seien. 8. Dadurch erhalten die staatlichen Gerichte einen nicht unwesentlichen Prüfungsspielraum zuerkannt, der sich indes darauf erstreckt, offensichtliche Inkonsequenzen zwischen kirchlichem Sendungsauftrag und der realen Situation zu benennen und zu bewerten, die Gewichtung der Nähe aber nach wie vor ausschließt. Die bloße Behauptung einer Zugehörigkeit von Pflichten zum geistlich-theologischen Auftrag ohne sachliche Anknüpfungspunkte reicht demnach nicht aus. 9. Die nach wie vor bestehende Aussage, dass es staatlichen Gerichten verwehrt sei, die eigene Einschätzung über die Nähe der von einem Arbeitnehmer bekleideten Stelle zum Heilsauftrag und die Notwendigkeit einer Loyalitätspflicht an die Stelle der durch die verfassten Kirche getroffenen Entscheidung zu stellen, setzt eine positiv erfolgte Plausibilitätskontrolle voraus. 10. Unklar ist bislang, welchen Maßstäben diese Plausibilitätsprüfung unterliegt. Aus dem Beschluss selbst sind nur rudimentäre Vorgaben abzuleiten. Damit wird die Erarbeitung von Plausibilitätskriterien der fachrichterlichen Rechtsfortbildung anheimgestellt. Dabei kann eine Rechtsanalogie durch den Blick in andere Rechtsgebiete hilfreich sein: So bedeutet die Plausibilitätskontrolle im Erschließungsbeitragsrecht die überschlagsmäßige Überprüfung auf Nachvollziehbarkeit des angefallenen Aufwand, im Luftverkehrsrecht die Nachvollziehbarkeit einer Prognoseentscheidung. Gemeinsames Merkmal ist also die Nachvollziehbarkeit. . 11. Die Rechtsprechung des EGMR ist im Ergebnis mit der des BVerfG weitgehend deckungsgleich; ihr methodischer Weg schwankt dagegen. In den Urteilen Ahtinen/Finnland; Hasan u. Chaush/Bulgarien und Obst/Deutschland nahm der Gerichtshof eine dem BVerfG von 1985 entsprechende Position ein. Zwar weist die EMRK keine dem Art. 137 Abs. 3 WRV entsprechende Garantie auf; das Autonomierecht der Religionsgemeinschaften wird jedoch vom Gerichtshof durch eine Gesamtschau von Art. 9 und Art. 11 begründet. Danach ist diese für den Pluralismus der demokratischen Gesellschaft unverzichtbar. Dies verbiete dem Staat jedes Urteil über die Legitimität religiöser Glaubensüberzeugungen oder über deren Bekenntnisformen. Die Entscheidung Schüth/Deutschland moniert dagegen, dass das Landesarbeitsgericht die Auffassung des kirchlichen Arbeitgebers ungeprüft übernommen habe, ohne die Nähe der Tätigkeit des Beschwerdeführers zum Verkündungsauftrag zu prüfen. Insofern geht der Gerichtshof also von einer Bewertung innerkirchlicher Maßstäbe aus. Eine eingehendere Prüfung sei für die Abwägung der widerstreitenden Interessen unbedingt erforderlich. 12. Ein aktuelles Beispiel soll diese Abweichung verdeutlichen: Nach Art. 2 Abs. 4 der 2015 neugefassten Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse gilt diese nicht für vorwiegend gewinnorientierte kirchliche Einrichtungen, mithin auch nicht die Ausführungen zur Dienstgemeinschaft (arg. e. Art. 2 Abs. 3 a. E.) und zur Loyalitätspflicht. Dabei ist nicht der vertragliche bzw. Satzungszweck entscheidend, sondern die reale Situation. Das führt zu Problemen, wenn sich ein kirchliches Unternehmen sukzessiv zu einem primär gewinnorientierten Unternehmen entwickelt oder wenn bei der Geschäftstätigkeit die Verbindung zum kirchlichen Auftrag offensichtlich abreißt. 13. Paradigmatisch mag hier der Fall des Augsburger Weltbild-Verlags erwähnt sein. Einst von den deutschen Diözesen gegründet, um als Hausverlag katholische Erbauungsschriften zu verbreiten, wandelte er sich in den letzten Jahrzehnten zu einem breitgestreuten Medienkonzern mit einem Sortiment, das mit dem kirchlichen Auftrag in mehreren Bereichen offensichtlich nicht mehr kompatibel war (außerchristliche Esoterik, Erotikliteratur bis hin zu Softpornos, Kriegsliteratur). Wenn auch die Kirche sich aus diesen Gründen 2014 aus dem Verlag zurückgezogen hat, hätte eine Plausibilitätskontrolle bei arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten thematisieren können, dass ein offensichtlicher Widerspruch zwischen kirchlichem Auftrag und realem Handeln vorliegt, der die Geltung des Selbstbestimmungsrechts und damit auch Loyalitätspflichten ausschließt. 14. Auch bei nicht primär gewinnorientierten Einrichtungen, z. B. Wohnungsbaustiftungen kirchlichen Rechts, ist der Bezug breitgestreuter Tätigkeitsportfolios zum kirchlichen Sendungsauftrag nicht immer plausibel darstellbar, zum Beispiel bei der Vermietung von Wohnmobilstellplätzen. Daher ist vor einer zu extensiven Einbeziehung aller möglichen Handlungsfelder im Sinne eines „Annexzusammenhangs" zum kirchlichen Auftrag zu warnen. 15. Als Fazit der aufgeworfenen Themenstellung ist demnach zu ziehen: Um sich auf eine Sonderstellung im Bereich der Geltung von Menschenrechten via Selbstbestimmungsrecht berufen zu können, muss das kirchliche Organisationsrecht die vom „kirchlichen Auftrag" geprägten Bereiche hinreichend klar bezeichnen. Das erfordert unter Umständen auch Korrekturen am Dogma einer bislang umfassenden und ungeteilten Dienstgemeinschaft. 
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